EU-Ratsvorsitzender Rinne rechnet mit erneuter Brexit-Verschiebung
Der finnische Regierungschef und derzeitige EU-Ratsvorsitzende Antti Rinne rechnet mit einer erneuten Verschiebung des Austritts Großbritanniens aus der EU. Aktuell sehe es so aus, als ob bis Ende Oktober kein Austrittsabkommen zustande komme, sagte Rinne der "Welt am Sonntag". "Ich gehe davon aus, dass dann irgendein britischer Premierminister die Frage nach einer Verlängerung stellen wird." In Schottland demonstrierten am Samstag rund 200.000 Menschen in Edinburgh für die Unabhängigkeit von Großbritannien.
Er wäre bereit, eine Bitte um Verlängerung zu erwägen, sagte Rinne der "Welt am Sonntag". Es habe den Anschein, dass der britische Premierminister Boris Johnson erst jetzt verstanden habe, "was das für ein großes Durcheinander ist, und er hat Schwierigkeiten einen Vorschlag zu machen, mit dem er da rauskommt", sagte der Sozialdemokrat, dessen Land derzeit dem EU-Rat vorsitzt.
Die Brexit-Gespräche zwischen Unterhändlern Londons und der EU-Kommission sollen am Montag in Brüssel wieder aufgenommen werden. Die EU verlangt von London bis zum kommenden Freitag einen Durchbruch, so dass den Mitgliedstaaten ein Rechtstext zur Beratung vorgelegt werden kann. Johnson hatte der EU am Mittwoch neue Vorschläge vorgelegt, um noch vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober eine Einigung zu erzielen.
Demnach soll die britische Provinz Nordirland nach dem Brexit in einer Zollunion mit Großbritannien bleiben. Kontrollen im Warenhandel mit Irland sollen nicht an der Grenze, sondern nur "dezentralisiert" über Online-Formulare und Überprüfungen auf Firmengeländen und entlang der Lieferkette erfolgen. Eine EU-Kommissionssprecherin erklärte am Freitag, Johnsons Vorschläge seien keine Grundlage für eine Einigung.
Johnson hatte stets angekündigt, Großbritannien werde die EU am 31. Oktober verlassen - notfalls auch ohne Abkommen. Aus einem am Freitag veröffentlichten Gerichtsdokument geht jedoch hervor, dass er doch eine Verlängerung der Brexit-Frist beantragen will, sollte er bis zum 19. Oktober kein Austrittsabkommen mit der EU geschlossen haben. Dazu verpflichtet ihn ein vom britischen Parlament beschlossenes Gesetz.
Am Sonntag bekräftigte Johnson in einem Artikel für zwei britische Boulevardzeitungen jedoch erneut, dass sein Land wie geplant aus der EU ausscheiden werde. An die Vertreter der EU gerichtet, schrieb er: "Sie sollten sich keinen Illusionen oder Missverständnissen hingeben. Es wird keine Unentschlossenheit mehr geben. Keine weitere Verzögerung. Am 31. Oktober werden wir den Brexit umsetzen."
Der britische Brexit-Minister Stephen Barclay zeigte sich am Sonntag im Sender BBC offen für Kompromisse in der Nordirland-Frage, rief zugleich aber Brüssel zu mehr "Kreativität und Flexibilität" in den Verhandlungen auf.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagte der französischen Zeitung "Le Monde" am Samstag: "Eine Einigung wird sehr schwer zu erzielen sein, aber es ist immer noch möglich." Er betonte jedoch, dass die EU "bereit für einen No-Deal" sei, "auch wenn wir uns das nicht wünschen".
Kurz vor der Fortsetzung der Verhandlungen mit der EU versuchte Johnson am Samstag in mehreren Telefonaten EU-Regierungschefs von seinen jüngsten Vorschlägen zu überzeugen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte erklärte anschließend, er habe Johnson gesagt, dass es noch "wichtige Fragen zu den britischen Vorschlägen" gebe. Vor dem entscheidenden EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober bleibe "noch viel Arbeit".
In Schottland demonstrierten am Samstag rund 200.000 Menschen in Edinburgh für die Unabhängigkeit von Großbritannien. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon strebt für das Jahr 2021 ein neues Referendum über die Unabhängigkeit an. Bei einer Volksabstimmung 2014 hatten sich 55 Prozent der Teilnehmer für einen Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden.
Allerdings hatte damals das Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU noch nicht stattgefunden. Beim Brexit-Referendum im Juni 2016 hatten sich 62 Prozent der Schotten gegen einen Austritt aus der EU ausgesprochen.
(P.Tomczyk--DTZ)