Papst kündigt Öffnung geheimer Vatikan-Archive aus NS-Zeit im kommenden Jahr an
"Keine Angst vor der Geschichte": Papst Franziskus hat die Öffnung geheimer Vatikan-Archive aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs angekündigt. Die Dokumente aus dem Pontifikat seines Vorgängers Pius XII. (1939-1958) würden ab dem 2. März 2020 zugänglich gemacht, sagte Franziskus am Montag im Vatikan. Zahlreiche Wissenschaftler fordern seit Jahren Zugang zu Beständen, um nachforschen zu können, weshalb sich der Papst damals nicht vehementer gegen den Massenmord durch die Nazis an den Juden wandte.
Pius XII. habe die katholische Kirche "zu einem der traurigsten und dunkelsten Momente des 20. Jahrhunderts" angeführt, sagte Franziskus. Die "seriöse und objektive historische Forschung" werde ein "gerechtes Licht, mit angemessener Kritik", auf das Agieren seines Vorgängers werfen. "Die Kirche hat keine Angst vor der Geschichte."
Die Entscheidungen von Pius XII. könnten zwar durch "einige als Zurückhaltung" gedeutet werden, sagte Franziskus weiter. Doch sein Vorgänger habe während des Zweiten Weltkriegs versucht, "die kleine Flamme der humanitären Initiativen, der versteckten aber aktiven Diplomatie", am Brennen zu halten.
Ursprünglich sollten die Dokumente bereits ab 2014 oder 2015 der Wissenschaft zugänglich gemacht werden, sagte der Leiter der geheimen Vatikan-Archive, Kurienbischof Sergio Pagano, der vatikanischen Zeitung "Osservatore Romano". Die Arbeiten dafür seien im Jahr 2006 unter dem deutschen Papst Benedikt XVI. begonnen worden. Aufgrund der Masse der Dokumente und Personalmangels habe sich die Öffnung jedoch verzögert.
Die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem begrüßte die Ankündigung des Heiligen Stuhls. Der Schritt werde "offene und objektive" Forschungen oder sogar eine "vollständige Studie" über die Position des Vatikans und der katholischen Kirche während des Holocaust ermöglichen.
Das American Jewish Committee (AJC) bezeichnete den Schritt als "enorm wichtig". Das Gremium hatte nach eigenen Angaben seit mehr als 30 Jahren die Öffnung der Bestände gefordert.
Auch die israelische Regierung zeigte sich "zufrieden" mit der Entscheidung von Papst Franziskus. Sie erwarte, dass nun Zugang zu den "einschlägigen Archiven" gewährt wird.
Unter Historikern ist die Politik des ehemaligen Papstes während des Zweiten Weltkriegs umstritten. Vor seiner Wahl auf den Heiligen Stuhl war er Nuntius in Deutschland und leitete später den diplomatischen Dienst des Vatikans. Kritikern zufolge hätte er den Holocaust deutlich schärfer verurteilen müssen, dies aber unterlassen, um die Katholiken im von den Nazis besetzten Teil Europas nicht in Gefahr zu bringen.
Diese Sichtweise griff auch der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth in seinem 1963 erschienenen Theaterstück "Der Stellvertreter" auf. 2002 machte der griechische Regisseur Costa Gavras aus dem Stoff einen Film ("Amen").
Andere Historiker verweisen im Gegenzug darauf, Pius XII. habe zehntausenden italienischen Juden das Leben gerettet, indem er die Klöster des Landes aufforderte, die Verfolgten aufzunehmen.
Die Öffnung der Archive könnte zudem Auswirkungen für die Seligsprechung des umstrittenen Kirchenoberhaupts haben. Diese stockt seit einigen Jahren wegen der Debatte um Pius’ Haltung angesichts der Ermordung von Millionen Juden. Der Prozess der Seligsprechung war 2009 von Benedikt XVI. neu angestoßen worden. Die Päpste Johannes XXIII. (1958-1963), Paul VI. (1963-1978) und Johannes Paul II. (1978-2005) wurden bereits heilig gesprochen.
(A.Nikiforov--DTZ)