Lindner schockt Ampel-Partner mit Forderungen nach radikaler "Wirtschaftswende"
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat mit einem Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik die Ampel-Koalition erschüttert. Auf 18 Seiten skizziert der FDP-Chef eine "Wirtschaftswende" mittels Steuersenkungen für Unternehmen, der Lockerung von Klimavorgaben und der Reduzierung von Subventionen und Sozialleistungen - vieles davon widerspricht dem bisherigen Kurs der Bundesregierung. SPD und Grüne wiesen die Vorschläge zurück, Sozialverbände kritisierten sie scharf. Aus der Wirtschaft kam Lob, aber auch die Warnung vor weiterer politischer Unsicherheit. Die Opposition forderte Neuwahlen.
Linder spricht sich in seinem Papier für eine "teilweise grundlegende Revision politischer Leitentscheidungen" aus. In der Energiepolitik erklärt er etwa den festgelegten Ausstieg aus der Kohle für überflüssig und fordert den Einsatz von Fracking zur Gasförderung. Durch weniger Sozialleistungen, ein höheres Renteneintrittsalter, flexiblere Arbeitszeiten und die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung sollen Arbeitskräfte mobilisiert werden.
Auf europäischer Ebene sollte Deutschland laut Lindner die Abschaffung von Vorgaben etwa für den Gebäudesektor und die Autoindustrie "durchsetzen". Auch brauche es keine "klimapolitisch motivierten Dauersubventionen", der Klima- und Transformationsfonds könne daher aufgelöst und Subventionsprogramme gestrichen werden. Dafür sollen der Solidaritätsbeitrag gestrichen und die Unternehmenssteuern gesenkt werden.
Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid bezeichnete Lindners Papier als "neoliberale Phrasendrescherei" und als in weiten Teilen unvereinbar mit dem Koalitionsvertrag. Parteichef Lars Klingbeil zeigte sich diplomatischer: "Vorschläge sind immer willkommen", sagte er der "Augsburger Allgemeinen". Viele der Ideen vor allem in der Sozial- und Arbeitspolitik widersprächen aber sozialdemokratischen Positionen.
Von den Grünen kam vor allem Unverständnis. Der Fraktionsvize Andreas Audretsch sprach von einer "Nebelkerze". "Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert", sagte er dem Nachrichtenportal t-online. "Die FDP verabschiedet ja jeden Monat ein Positionspapier", sagte Fraktionschefin Katharina Dröge dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Koalition könne sich damit nicht immer beschäftigen.
Hinter den Kulissen brodelt es aber offenbar. Wie "Spiegel" und "Bild am Sonntag" berichteten, plant Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mehrere Sechs-Augen-Gespräche mit Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Demnach soll nach Möglichkeit bis zum Koalitionsausschusses am Mittwochabend geklärt sein, wie es mit der Koalition weitergeht.
Aus der FDP kamen unterschiedliche Signale. Fraktionschef Christian Dürr sprach von einem "ehrlichen Angebot", das Linder gemacht habe und das nun innerhalb der Koalition besprochen werden solle. Parteiinterne Kritiker der "Ampel" fühlten sich hingegen in ihrer Forderung nach einem Ende der Koalition bestätigt. "Das Papier ist ein Frontalangriff auf den Koalitionsvertrag", sagte Uwe Henn, Mitinitiator der FDP-Basisinitiative Weckruf-Freiheit, dem "Tagesspiegel".
"Wenn die FDP jetzt die Ampel verlässt, wäre das politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tod", sagte hingegen der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum dem "Tagesspiegel". Einem Bericht der Zeitung zufolge hatte Lindner die eigene Partei nicht über das Papier informiert. Die "Welt am Sonntag" hatte zuvor berichtet, dass zunächst nur Beratungen im engsten Kreis der Bundesregierung geplant waren, das Papier wurde demnach ungewollt öffentlich.
Inhaltlich kam vor allem von Unternehmerseite Lob für Lindners Ideen. Der Verband der Familienunternehmer sprach von einer "exzellenten Analyse", die nun schnell umgesetzt werden müsse. Auch der Präsident des Außenhandelsverbands BGA, Dirk Jandura, begrüßte die Vorschläge. Allerdings brauche es auch Taten. "Noch mehr Verunsicherung kann sich unser Land nicht leisten", fügte er hinzu.
Michael Groß, Präsident der Arbeiterwohlfahrt, kritisierte hingegen, Lindner übe sich in "reiner Klientelpolitik". Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, warf dem FDP-Chef vor, mit seinem Sparkurs den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zu gefährden. "Menschen werden gegeneinander ausgespielt."
CDU-Chef Friedrich Merz erklärte, Lindners Vorschläge "gehen in die richtige Richtung". Insbesondere die SPD habe aber offenbar noch nicht begriffen, dass es wirtschaftspolitisch ein Umsteuern brauche. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte Neuwahlen. "Es ist vorbei: Das Totenglöckchen der Ampel läutet", sagte er der "Bild". Dem schloss sich AfD-Fraktionschefin Alice Weidel an. "Je eher es Neuwahlen gibt, desto besser für unser Land", sagte sie der "Welt".
(O.Zhukova--DTZ)