Streit zwischen Regierung und Parlament verzögert Brexit-Debatte im Unterhaus
Heftige politische Turbulenzen haben am Dienstag den Beginn der entscheidenden Debatte im britischen Unterhaus über das Brexit-Abkommen verzögert. Aus Verärgerung über die Weigerung der Regierung, ein internes Rechtsgutachten zu dem Abkommen vorzulegen, setzten die Abgeordneten zunächst eine Debatte über Parlamentsmissachtung an. Sie könnte zu einer Suspendierung des Generalstaatsanwalts führen, der für das Gutachten verantwortlich ist.
Die Turbulenzen im Parlament demonstrierten erneut, wie gering der Einfluss der Regierung von Premierministerin Theresa May auf die Abgeordneten derzeit noch ist. Eigentlich sollte im Plenum bereits am Dienstagmittag eine fünftägige Mammutdebatte über den umstrittenen Brexit-Vertrag mit der EU beginnen. An deren Ende ist für den 11. Dezember das entscheidende Votum geplant.
Sollte Premierministerin May dann im Parlament keine Mehrheit für den von ihr ausgehandelten Vertrag finden, droht ein ungeordneter Austritt mit unabsehbaren Folgen für Großbritannien und die EU.
May wollte im Plenum noch einmal eindringlich für die Annahme des Abkommens werben. Dieses entspreche dem Wunsch des britischen Volkes, hieß es in vorab veröffentlichten Redeauszügen. "Die Briten erwarten von uns einen Deal, der das Ergebnis des Referendums würdigt und uns als Land wieder zusammenkommen lässt." Das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen könne dies gewährleisten.
Ihr am Dienstag geplanter Auftritt verzögerte sich aber: In einer hitzigen Debatte setzten die Abgeordneten am Montagabend zunächst eine Debatte über Parlamentsmissachtung durch die Regierung an. Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox hatte das Plenum mit der Weigerung verärgert, sein Rechtsgutachten zum Brexit-Abkommen vollständig vorzulegen. Er ließ den Abgeordneten nur eine Zusammenfassung zukommen.
Eine vollständige Vorlage stünde "dem öffentlichen Interesse entgegen" und würde Staatsgeheimnisse offenbaren, sagte er am Montagabend unter dem Protest der Abgeordneten im Parlament. Cox resümierte, dass das Brexit-Abkommen zwar "nicht zufriedenstellende" Elemente enthalte, als Ganzes aber einen "friedlichen und geordneten" Austritt aus der EU gewährleiste.
Das Unterhaus hatte vor wenigen Wochen in einer Resolution verlangt, Einsicht in das komplette Gutachten zu bekommen. Die Abgeordneten warfen der Regierung deshalb nun eine Missachtung des Parlaments vor. Darüber wollten sie am Dienstag zunächst debattieren.
Sollte eine Mehrheit zu dem Schluss kommen, dass die Regierung tatsächlich das Parlament missachtet hat, kann es den Generalstaatsanwalt suspendieren. Die Statuten sehen außerdem vor, dass die Abgeordneten ihn für eine Nacht in einem Turmzimmer des Westminster-Palastes einsperren können. Von dieser Disziplinarmaßnahme wurde allerdings seit Juni 1880 nicht mehr Gebrauch gemacht.
Der Ausgang des Votums über das Brexit-Abkommen in der kommenden Woche gilt als offen. Wegen parteiübergreifender Vorbehalte war zunächst keine Mehrheit für Mays Vorlage in Sicht.
Auftrieb erhofften sich die Brexit-Gegner von einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Der dortige Generalanwalt vertrat am Dienstag die Auffassung, dass Großbritannien den in Brüssel eingereichten Antrag auf Austritt aus der EU einseitig wieder zurückziehen könne. Die Möglichkeit einer Rücknahme der Brexit-Erklärung besteht nach Ansicht von Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Austrittsabkommens.
Wann und ob eine Entscheidung in dem EuGH-Verfahren fällt, blieb zunächst unklar. Es war von Brexit-Gegnern aus verschiedenen britischen Parteien angestrengt worden.
Die politische Bedeutung dieser Rechtsfrage ist momentan eher theoretisch: Keine nennenswerte politische Kraft in Großbritannien plädiert dafür, den Brexit kurzerhand durch eine Rücknahme der Austrittserklärung abzuwenden. Die Debatte dreht sich vielmehr um die Frage, ob vor dem Vollzug des Austritts noch ein Referendum abgehalten werden soll.
Brexit-Gegner in Großbritannien begrüßten das Urteil dennoch: Es weise "einen Weg aus den Brexit-Wirren", sagte der schottische Abgeordnete Alyn Smith, der zu den Klägern zählte.
(P.Tomczyk--DTZ)