Kritik wegen versäumter Festnahme von Terror-Flüchtling Anis Amri
Der Berliner Sonderermittler zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche wirft Polizei, Justiz und Politik schwere Fehler und Versäumnisse vor. "Es hätte eine reelle Chance gegeben, Anis Amri in Haft zu nehmen", sagte der frühere Bundesanwalt Bruno Jost am Donnerstag über den tunesischen Attentäter bei der Vorstellung seines Abschlussberichts. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) forderte einen eigenen Untersuchungsausschuss im Bundestag.
Der aus Tunesien stammende Islamist Amri hatte am 19. Dezember vergangenen Jahres einen Lastwagen gezielt in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gesteuert. Zwölf Menschen starben, etwa 70 weitere wurden verletzt. Amri wurde Tage später auf seiner Flucht von italienischen Polizisten erschossen. Auf 68 im Internet veröffentlichten Seiten fasste Jost nun seine Erkenntnisse der vergangenen Monate zusammen. Jost sagte, nur drei der nachträglich festgestellten 14 Vergehen Amris hätten möglicherweise für einen Haftbefehl gereicht. Am schwersten wiegt demnach die Festnahme Amris Ende Juni 2016 in Friedrichshafen, als Beamte gefälschte Dokumente bei dem als Gefährder bekannten Amri fanden. "Da wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann", sagt Jost.
Er warf den Landeskriminalämtern Berlins und Nordrhein-Westfalens, die für Amri zuständig und über diesen umfassend informiert waren, Untätigkeit vor. Die Beamten hätten nicht ihren "Hintern bewegt" und Amri während dessen zwei Tagen im Friedrichshafener Gewahrsam vernommen. Andernfalls hätte Amri nach Josts Einschätzung leicht bis zu vier Monate festgenommen werden können, um in dieser Zeit seine Abschiebung zu organisieren.
Der zuständigen Abteilung 5 des Berliner LKA bescheinigte Jost "katastrophale Zustände". Innensenator Geisel sagte, die LKA-Führung sei an seinem bis Ende November zuständigen Vorgänger Frank Henkel (CDU) "mehrfach gescheitert", als sie auf die schwierige Personalsituation in der Abteilung aufmerksam gemacht habe.
Mitarbeiter derselben Abteilung manipulierten Jost zufolge nachträglich Akten, um eine mögliche verpasste Gelegenheit zu Amris Festnahme zu kaschieren. Schon im Frühjahr machte Jost bekannt, dass im Januar Akten zu Amri frisiert und so Erkenntnisse über dessen gewerbsmäßigen Drogenhandel zu Kleinhandel umgeschrieben wurden.
Nun informierte Jost darüber, dass die Manipulation schon zwei Tage nach dem Anschlag ihren Anfang nahm, als die Abteilung einen Bericht an die politische Führung des Hauses verfasste. Wer dafür verantwortlich war, wollte Jost nicht sagen. Gegen den oder die beschuldigten Beamten laufen Strafverfahren.
Jost warf dem LKA eine mangelhafte Aufsicht vor. Der Generalstaatsanwaltschaft warf Jost vor, die Observation Amris wiederholt bis Ende August verlängert zu haben, ohne sich nach dem Ermittlungsstand zu erkundigen. Tatsächlich waren die Beobachter Amris schon im Juni vorzeitig abgezogen worden, auch mangels Personal. Ferner bestätigte Jost Medienberichte, wonach dem Bundeskriminalamt die von Tunesiens Behörden für eine Abschiebung geforderten Handflächenabdrücke Amris vorlagen. "Sie standen auch Nordrhein-Westfalen zur Verfügung und lagen dort auch vor", sagte Jost. "Warum sie dort nicht verwertet wurden, weiß ich nicht." Das Bundesland war ausländerrechtlich zuständig für Amri und hatte dessen nicht erfolgte Abschiebung bislang mit dem Fehlen der Abdrücke begründet.
Geisel sagte, Fehler seien länderübergreifend und auch auf Bundesebene gemacht worden. Er rege "deswegen die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag an". Die Kommunikation zwischen den Sicherheitsbehörden müsse verbessert werden. Es gebe "noch eine ganze Reihe von Gefährdern im Land", die abzuschieben seien. "Ich rege an, dass das auf Bundesebene organisiert wird." (I.Beryonev--DTZ)