Ruf nach "Wahrheit" wird nach Chemieunglück in Frankreich lauter
"Unsere Kinder sind in Gefahr" - "Wir wollen die Wahrheit wissen": Fast eine Woche nach dem Großbrand in einem Chemiewerk in Nordfrankreich haben mehr als 2000 Bürger in der Stadt Rouen für sofortige Aufklärung demonstriert. Wie die Präfektur nach massivem öffentlichem Druck bekanntgab, gingen mehr als 5200 Tonnen Chemikalien in Flammen auf. Die Regierung ordnete am Mittwoch zusätzliche Kontrollen in gefährdeten Werken an.
"Die Produkte sind alle nicht gefährlich", erklärte die Verwaltungsbehörde zu der Liste chemischer Bestandteile, die für Laien weitgehend unverständlich ist. Präfekt Pierre-Yves Durand räumte aber ein, dass 160 Fässer mit Chemikalien noch nicht vom Gelände der Firma Lubrizol des US-Milliardärs Warren Buffett entfernt werden konnten. Sie seien in einem "prekären Zustand". Durand schloss Gesundheitsrisiken durch Stoffe wie Asbest grundsätzlich aus.
"Herr Präfekt, Sie lügen", reagierte der Umweltschutzverein Andeva, der sich für die Opfer von Asbesterkrankungen einsetzt. In der schwarzen Rauchwolke, die nach dem Brand am Donnerstag über die 110.000-Einwohner-Stadt Rouen und ihr Umland zog, seien viele Asbestfasern gewesen.
Viele Menschen in Frankreich erinnert das Vorgehen der Behörden an den Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl 1986. Damals hieß es offiziell, die radioaktive Wolke habe an der französischen Grenze Halt gemacht.
Auch die französischen Anti-Terror-Gesetze verhindern Medien zufolge die Aufklärung: Danach können Chemiefirmen ihre Stoffe geheim halten, wenn Anschläge befürchtet werden.
Für Misstrauen in Rouen und Umland sorgen faulige Gerüche und der schwarze Ruß, der sich über Häuser, Gärten und Felder gelegt hat. Viele Menschen klagen über Übelkeit und Kopfschmerzen.
Die Luftverschmutzung in Rouen sei "vergleichbar mit den Werten, die normalerweise gemessen werden", hieß es dagegen auf der Webseite der Präfektur. Leitungswasser könne "ohne Gesundheitsrisiko" getrunken werden.
Viele Anrainer misstrauen den Angaben: In Online-Netzwerken veröffentlichten besorgte Bürger Bilder von schwarzem Wasser, das aus ihren Leitungen kam, oder von rußgeschwärzten Terrassen. In mehreren Schulen blieben Lehrer dem Unterricht wegen der Geruchsbelästigung fern. Seit dem Brand sind mehr als 40 Anzeigen bei der Polizei eingegangen. Die französischen Grünen nennen die Informationspolitik "katastrophal".
Vom Verzehr von Obst und Gemüse, das mit Ruß verschmutzt ist, raten die Behörden seit dem Brand ab. Zudem dürfen Landwirte der Region ihre Eier, Milch und andere Produkte bis auf Weiteres nicht mehr verkaufen.
Der Gesundheitsexperte Yves Lévi von der Universität Paris-Süd sagte der Zeitung "Le Figaro", toxische Stoffe seien in der Regel geruchlos und deshalb nur schwer zu erkennen. Die Übelkeit erregenden Gerüche gingen von sogenannten Mercaptanen aus, die dazu dienen, geruchloses Gas zu "markieren" und auf Lecks aufmerksam zu machen.
Für Mittwochabend war in der französischen Nationalversammlung eine Anhörung von Umweltministerin Elisabeth Borne geplant. Die Regierung hat "absolute Transparenz" versprochen und ordnete nach Angaben einer Sprecherin zusätzliche Kontrollen in allen gefährdeten Werken im Land an. Das Parlament will dem Vernehmen nach einen Untersuchungsausschuss einsetzen.
Der Betreiber des Chemiewerks Lubrizol teilte mit, der Brandherd habe offenbar außerhalb der Fabrik gelegen. Dies legten Aufnahmen aus Überwachungskameras nahe. In dem Werk wurden Zusatzstoffe für Schmierstoffe hergestellt. Es unterliegt der sogenannten Seveso-Richtlinie der EU, die besonders strenge Sicherheitsauflagen vorschreibt.
(A.Stefanowych--DTZ)